Von Ingo Althöfer

Rechnen konnte Igor wie ein Teufel, sei es im Kopf oder auf dem Papier. Auf die Klassenkameraden in der 5c blickte er in Mathe mit Arroganz hinab. Ganz im Gegensatz zu den übrigen Fächern, in denen es andersherum war: In Sport zum Beispiel reichte Igors Treffsicherheit beim Fußball lediglich dafür aus, einem Mitschüler versehentlich die Sportbrille von der Nase und kaputt zu schießen. Daher nutzte er seine Überlegenheit im Fach Mathe natürlich weidlich aus. Eines Tages gab es eine Vertretungsstunde durch den Mathelehrer, Herrn Osterhage. Dieser wollte sich nicht verausgaben und stellte zu Beginn eine einfache Rechenregel vor: 

„Wenn die aktuelle Zahl n ungerade ist, bildet man 3n+1. Das Ergebnis ist eine gerade Zahl. Die teilt man so lange durch 2, bis es nicht mehr geht. Dann bildet man wieder ‚mal 3 plus 1‘, teilt dann wieder durch 2, bis es ungerade wird, usw. Hier habt ihr ein Beispiel: 1 wird 4 wird 2 wird 1. Aha, von der 1 kommt man also ganz schnell wieder zur 1. Probieren wir die 3. 3 wird 10 wird 5 wird 16 wird 8 wird 4 wird 2 wird 1. Also führt auch die 3 nach kurzer Zeit zur 1. Und wisst ihr was? Schlaue Leute, allen voran ein Professor Collatz, vermuten, dass, egal mit welcher ungeraden Zahl es losgeht, man immer irgendwann zur 1 gelangt. Und jetzt seid ihr dran: Fangt, jeder für sich, bei der 27 an und rechnet auf dem Papier, bis ihr bei der 1 seid. Wer das als erster richtig fertig hat, bekommt ein Duplo!“

Das ließ Igor sich nicht zwei Mal sagen. Nach 6 Minuten und 28 Sekunden hatte er die vollständige Lösung mit ihren 93 Schritten, während alle anderen noch mit den Griffeln in der Hand schwitzten. Igor rannte vor, um sich das Duplo abzuholen. Aber Herr Osterhage, den die Schüler untereinander nur Ossi nannten, hatte eine Überraschung für ihn in petto. Leise, um die anderen nicht zu stören, sagte er: „Gut gemacht, Igor. Aber ich biete Dir ein Upgrade an: Statt des einen Duplo bekommst Du drei, wenn Du die folgende etwas schwerere Aufgabe löst: Beim 3n+1/5n+1-Problem passiert folgendes: Es geht mit einer ungeraden Zahl n los. Dazu bildet man 3n+1 und halbiert dann so oft, bis man wieder bei einer ungeraden Zahl m ist. Dazu bildet man 5m+1 und halbiert wieder runter bis zu einer ungeraden Zahl. Hier ist ein einfaches Beispiel: 7 wird 22 wird 11 wird 56 wird 28 wird 14 wird 7. Die 7 landet also nach einer Runde wieder bei sich selbst. Wenn Du es schaffst, bis zum Ende der Stunde auszurechnen, wie man ausgehend von der 95 zur 7 gelangt, bekommst Du drei Duplos. Magst du?“

Igor, etwas zu laut: „Super, drei Duplos für lau. Na klar, da werde ich mich mal etwas anstrengen.“ Er begann und rechnete und rechnete und rechnete … und hörte auch das Pausenklingeln nicht. Herr Osterhage kam zu ihm und fragte: „Na Igor, wie weit bist Du?“ „Noch nicht ganz fertig.“ Igor hatte es in der vorgegebenen Zeit leider nicht geschafft – und musste sich den Spott der Klassenkameraden gefallen lassen. Mit einer Mischung aus Wut und Schmerz stapfte er an diesem Tag nach Hause. Was bildete sich Ossi ein? Ihn so bloßzustellen, und das im einzigen Fach, in dem er punkten konnte. Der hat mich doch aufs Glatteis geführt!

Während des Mittagessens kam ihm die Idee, es Ossi heimzuzahlen. Er würde ihn ebenso öffentlich lächerlich machen und ihm vor allen zeigen, dass dieser ihm eine Unsinns-Aufgabe gestellt hatte. Also setzte er sich erneut hin, rechnete und rechnete – und war binnen einer Stunde am Ziel. Er hatte die Aufgabe gelöst! Damit war klar: Er hätte nur etwas mehr Zeit gebraucht. Und Ossi hatte ihn gar nicht vorgeführt. Das fühlte sich viel besser an.

Bei der nächsten Gelegenheit sprach Igor ihn an, zeigte ihm sein Ergebnis und sagte, wie lange er dafür gebraucht hatte, und mit welchen Tricks zur Abkürzung. „Das ist wirklich sehr gut, Igor. Lust auf eine weitere Kopfnuss?“ Igor nickte begeistert.

Es sollte sein großes Glück werden, dass Ossi in den nächsten acht Jahren sein Mathelehrer wurde. Ein Segen für Igors ständig ruhelosen, unterforderten Geist, gepaart mit seiner impulsiven, überschäumenden Lebensenergie, was sich beides bei wechselnden Bezugspersonen verschlimmerte.

Ossi wurde sein Lieblingslehrer, gab ihm Stabilität, nicht zuletzt, weil er ihm viel zutraute, Freude an Igors Begabung hatte und ihn an seinen Grenzen entlang forderte. Dazu kam: Die bestechende Logik, abstrakte, ewige Schönheit und Verlässlichkeit der Zahlen ergaben als Einziges Sinn für Igor in einer Welt, die mit seiner Eigenart nur bedingt zurecht kam und in die er selbst nur bedingt zu passen schien.

So war es kein Wunder, dass er später Mathematik studierte. Im Jahr 1988 fand er eine fantastische Anwendung des Zykel-Lemmas in der Kombinatorischen Spieltheorie. Und zusammen mit seinem Freund Imre stellte er eine Korrelations-Gleichung auf, die die Mathematik zur Künstlichen Intelligenz revolutionierte. Beides trug ihm den Ruf eines unkonventionellen und kreativen Mathematikers ein. Igor hatte endlich seinen Platz in der Welt gefunden.

Duplos hat er allerdings nie wieder angefasst.

 

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